Mein letzter Tag mit Herrn Kretschmer

Mein letzter Tag mit Herrn Kretschmer

Herr Kretschmer war eigentlich ein netter Mensch. Aber netter Mensch und Lehrer - passt irgendwie nicht zusammen. Denn Kinder sind nicht sehr nett. Sie machen lauter Unsinn, wenn sie können. Und der Lehrer muss dann weniger nett sein.

Ein deutscher Lehrer und ein türkischer Schüler - passt auch nicht. Sie kommen aus verschiedenen Welten. Genau das aber war der Grund, warum unsere Eltern eine ordentliche Menge Geld dafür bezahlten, dass wir die Deutsche Schule Istanbul besuchen konnten. Wir sollten deutsche Kultur lernen. Deutsch lernen? Von dem Geld, das die Eltern bezahlten, konnte man damals einen voll beschäftigen, damit er einem Deutsch beibringt. Dann hat man zwar Deutsch gelernt, damit etwas von der Kultur, aber deutsche Kultur kann man in Kursen oder in Privatunterricht kaum lernen.

Wie so Clash-of-Civilizations im kleinen Maßstab abläuft, lernte ich eines Tages unvermittelt kennen. Meine, ansonsten mich sehr liebhabende, Deutschlehrerin Frau Semerau brüllte mich aus meiner Gedankenwelt: "Ist meine Frage so blöd?" (Ich denke, bei meinem Satz hätte sie auch gebrüllt.) Was war passiert? Sie hatte gesehen, dass ich unmittelbar im Anschluss an ihre Frage  zur Decke guckte. In Deutschland bedeutet das so viel wie "Was um Himmels Willen soll denn das nu wieder?" Bei mir sah die Sache aber ganz anders aus. Ich konzentriere mich, indem ich mir etwas ansehe, wo keine Information ist. Eine leere Decke ist so etwas.

Herr Kretschmer war nicht nur Deutsch- und Englischlehrer. Er hatte seine Finger in mehr Sachen drin. So war er bekannt durch sein Puppenspiel. Und auch in der Theatergruppe war er höchst aktiv. Er war ein allseits beliebtes Mitglied der Deutschen Kolonie, die sich damals in der Teutonia traf.

Es war so ein Tag, an dem türkische Schüler und Herr Kretschmer aneinandergerieten. Er hatte Pausenaufsicht und wir keine Lust, vom vierten Stock auf den Hof zu gehen. Unser Schuldirektor hatte damals etwas angeordnet, dessen Bedeutung ich erst viele Jahre später, eher Jahrzehnte später, verstand. Kinder müssen raus. Man würde damals denken, an die frische Luft. Ich sollte später einer derer sein, die entdeckten, dass wir eigentlich an das frische Licht mussten. Herr Kretschmer hatte die ersten drei Etagen "gesäubert", also alle auf den Hof gejagt. Dann hörte er den Tumult in der vierten.

Wir hatten die ersten fünf Minuten der großen Pause dazu benutzt, den Klassenraum in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Die Tische umgelegt und als Schützengraben angeordnet. Unsere Schwämme und die aus den Nachbarklassen voll Wasser gemacht, um sie als Geschosse zu verwenden. Zu dieser "schweren" Artillerie kamen die Kreidevorräte, die durch die Gegend flogen. Vorsichtshalber hatten wir auch die Klassentür verbarrikadiert.

Durch den Lärm alarmiert, war Herr Kretschmer hoch gerannt und die Tür doch aufgeschoben. Da traf ihn ein nasser Schwamm, weil nicht alle gemerkt hatten, dass der Lehrer in der Tür stand. Er brüllte "Jetzt ist aber Schluss damit!" Dann meinte er, dass wir Glück hatten,, dass die vorletzte Stunde am Donnerstag war. Sonst hätte er uns gleich zum Direktor geschleppt.

Er schrieb die Namen der Rädelsführer auf. Und sagte "Bis Montag. Ich fahre erst mal nach Ankara." In Ankara ist er nie angekommen. In den Erinnerungen von Dietmar Theis in der Festschrift zur 125-Jahrfeier der Schule steht "Aus der Mittelschulzeit hat sich eine andere Erinnerung stark eingeprägt. Im April 1960 starb Herr Kretschmer, ein Lehrer an unserer Schule, an den Folgen eines Autounfalles. Der Fahrer des Unglückswagens war sein Kollege und unser Klassenlehrer in der achten Klasse. Er war schwer verletzt, und ich besuchte ihn im Auftrag der Klasse im Krankenhaus. Apparate, Schläuche, das vertraute Gesicht verfärbt und eingefallen — meine erste Berührung mit Unfall, Krankheit und Tod."

Sein Tod jährt sich am 21. April zum 60. Mal.

Ahmet Çakir, 1963 A