Ahmet Emin Yalman

Yalman: Was ich der Deutschen Schule verdanke

Diesen Artikel hat einer der bekanntesten Journalisten unserer Schulzeit geschrieben, Ahmet Emin Yalman. Seine Zeitung, VATAN, und er gehörten den Unbeugsamen. Als ich auf die Deutsche Schule ging, schrieb er positiv über die Menderes Regierung, weswegen er bei uns zu Hause unbeliebt war. Später hat ihn genau diese Regierung für 15 Monate ins Gefängnis gesteckt, aus der ihn die Militärregierung nach dem Putsch von 1960 heraus holte. Das half aber seiner Zeitung nicht, weil das Volk größere Sorgen hatte. Er hat gegen die Nazis geschrieben, als es nicht so opportun war. Der vorletzte Sultan hat ihn ins Exil geschickt, nachdem er unter dem Roten Sultan noch glimpflich davongekommen war. Die Briten schickten ihn nach Malta ins Exil. Auch nach der Gründung der Türkei wurde er ins Exil geschickt, im Inland wg. der Kosten. Schicksal eines Kritikers, dem die Macht der Kritisierten wohl egal war, Abdul Hamit, Sultan Reşat, der König von Britannien, Hitler, Ismet Inönü oder Adnan Menderes. Die Universitäten von Californien und Georgia verliehen ihm den „Great Courage Award „. Den hat er sich redlich verdient.

Ahmet Ç.

In meiner langen Studienzeit war ich Schüler verschiedener Schulen, aber die Deutsche Schule in Beyoğlu, die ich von 1903-1907 besuchte, ist mir immer besonders lieb geblieben.

Da ich von 1901 – 1903 die Österreichische Schule in Saloniki besucht und außerdem Privatstunden in Deutsch genommen hatte, erlaubten mir meine Kenntnisse in der deutschen Sprache sofort den Eintritt in die vierte Klasse. Glück hatte ich auch mit meinen vorherigen Schulen: der Privatschule von Maruf Efendi, Scheh eines Tekke’s des Rüfai Ordens, dann Feizi-Sübyan (heute in Istanbul unter dem Namen lschik-Lyzeum bekannt), schließlich der Militär- Mittelschule in Saloniki, an der mein Vater Osman Tevfik Bey Lehrer war und Atatürk einige Jahre vorher studiert hatte. Das war eine fortschrittliche Musterschule, von Süleyman Pascha gegründet, dem späteren Feldherrn im Russisch-Türkischen Kriege (1876/77) und dem heroischen Vorkämpfer für die erste Verfassung der Türkei (1876} .

Meine Laufbahn schien damals klar festzustehen: Militärgymnasium in Monastir, Kriegsschule in Istanbul, später womöglich Generalstabsakademie. Drei Monate vor der Endprüfung geschah etwas, das mein Leben völlig veränderte. Kurz vor der letzten schriftlichen Zwischenprüfung las Hauptmann Şakir, der Geographielehrer, die Namen einiger Schüler, darunter auch meinen, vor und kündigte an, daß wir die Note Null in der Prüfung bekämen, selbst, wenn wir die beste Note (15) verdienten, weil wir „stumme Karten“ beim Schulsekretär gekauft, sie aber nicht ausgefüllt abgeliefert hätten. Ich erklärte sofort, daß der Klassenlehrer keine solche Aufgabe gestellt und wir die Karten nur zu unserm eigenen Vergnügen gekauft hätten. Er antwortete in heftigem Ton, sein Entschluß sei unabänderlich. Das ging gegen mein Gerechtigkeitsgefühl. Die Note Null würde alle meine Hoffnungen und schönen Träume vernichten. Noch glaubte ich, daß alles nur ein böser Scherz sei und daß sich ein Lehrer solche Ungerechtigkeit nicht erlauben würde. Während der Prüfung gab ich mir besondere Mühe, der Lehrer aber blieb neben mir stehen und sagte: „Du arbeitest umsonst, du wirst eine Null bekommen.“ Das war zu boshaft, ich begann zu weinen, aber fuhr dennoch fort zu schreiben. Als ich wirklich die Null erhielt, wurde ich nervenkrank. Die Ärzte meinten, daß ich mit meiner empfindlichen Natur besser eine Fremdschule besuchen solle, wo mir so etwas nicht passieren könne. So kam es, daß ich meinen Weg zur deutschen Bildung fand, mit der Österreichischen Schule begann und ab 1903/04 die Deutsche Schule besuchte.

Inmitten der dunklen Palastwillkürherrschaft des Sultans Abdul Hamit II. schien mir die Deutsche Schule mit ihrem feinen Direktor Dr. Hans Schwatlo und ihren pflichttreuen und gerechten Lehrern ein Paradies und eine Zufluchtsstätte der Freiheit zu sein. Sie bildete eine der wenigen Inseln in der damaligen Türkei, wo man keine Angst fühlte, seine Meinung aufrichtig auszusprechen, wo niemand fürchtete, daß die Worte von einem Geheimagenten und in einer gefälschten und übertriebenen Form einer höheren Geheimbehörde gemeldet würden und man selbst und die Familie darunter zu leiden hätte.

In dieser Schule unter der klugen Leitung Dr. Schwatlos schien man das Geheimnis zu besitzen, uns Schülern alle Arbeiten nicht als Mühe, sondern eher als Vergnügen erscheinen zu lassen. Besonders in der I. Klasse, als Dr. Schwatlo mein Literaturlehrer war, habe ich in der deutschen Sprache und in meiner Allgemeinbildung große Fortschritte gemacht. Ich hatte mich entschlossen, Journalist zu werden und versuchte systematisch, die Lücken in meinem Wissen zu füllen. Dr. Schwatlo war mir dabei eine große Hilfe; oft las er meine Aufsätze als Muster in der Klasse vor, ermutigte und beriet mich.

In der Reifeprüfung war zwar mein deutscher Aufsatz der beste der Klasse, aber da ich mich in der mündlichen Prüfung als ein sehr schüchterner Schüler ungeschickt zeigte, tröstete mich Dr. Schwatlo mit den Worten: „Du brauchst nicht niedergedrückt zu sein. In den schriftlichen Prüfungen sind deine Leistungen glänzend. Du bekommst dein Reifezeugnis ganz sicher und mit Ehre.“

Diese moralische Ermutigung und das freundliche Interesse des Direktors für mich blieben mir unvergeßlich. Ich verglich das mit dem ungerechten Verhalten des Hauptmanns Şakir und fühlte mich mit ständiger Dankbarkeit der Deutschen Schule verbunden.

An dem Tage, als ich mein Reifezeugnis erhielt, wurde ich gleich als Übersetzer für Englisch bei der Zeitung „Sabah“ angestellt. Außerdem empfahl mich Dr. Gies, der einflußreiche Chefdolmetscher der Deutschen Botschaft, dem Dr. Schwatlo meinen Prüfungsaufsatz gezeigt hatte, Tahsin Pascha, dem Ersten Sekretär Abdul Hamids. Ich erhielt sofort eine Stellung im Übersetzungsbüro der Hohen Pforte. Neben diesen beiden Stellungen studierte ich zugleich an der juristischen Fakultät in Istanbul.

Meiner Schulbildung verdanke ich die folgenden Erfolge in meiner weiteren Laufbahn. 1. Obwohl erst neunzehnjährig, konnte ich in meiner Zeitungsarbeit und im Übersetzungsbüro manche Erfolge verzeichnen. Nach dem Jungtürkischen Aufstand von 1908 wurde ich der „Leitartikel- Redakteur“ der neugegründeten Zeitung „Yeni Gazete“ und Hilfskorrespondent der Wiener Neuen Freien Presse. Hin und wieder schrieb ich Artikel für die Vossische Zeitung in Berlin. 2. Als die Columbia-Universität Stipendien für fünf jungtürkische Studenten anbot – ein Zeichen ihres Interesses an der türkischen Freiheitsbewegung – wurde ich der erste unter 180 Bewerbern in der Konkurrenzprüfung, wobei ich mich hauptsächlich auf die englischen Kenntnisse stützte, die ich an der Deutschen Schule erworben hatte.

  1. Als man 1915 einen Kriegskorrespondenten der Zeitung „Tanin“ an die deutschen Fronten schicken wollte, wurde ich aufgrund meiner Kenntnisse in der deutschen Sprache ausgewählt und besuchte als einziger Korrespondent alle Fronten, alle westlichen Kriegsschauplätze, die Armeegruppen des Prinzen Leopold und Hindenburg im Osten, Tirol, die Armee unter Mackensen in Serbien und 1916 das Türkische Armeekorps in Galizien.
  2. 1914 wurde ich Dozent für Soziologie und 1916 Professor der Statistik an der Universität und mit 28 Jahren Hauptschriftleiter des „Sabah“, 1917 der Zeitung „Vakit“ und 1923 des „Vatan“.

Meine Dankbarkeit gegenüber der Deutschen Schule ist nicht nur eine rein persönliche. Ich bin der Ansicht, daß die Türkei der Deutschen Schule und den anderen guten Fremdschulen, die es ermöglichen, daß wir gründliche Kenntnisse der fremden Sprachen erwerben, eine tiefe Dankbarkeit schuldig ist. Diejenigen, die diese Schulen ungerechterweise angreifen, vergessen, daß wir viele Studenten in fremde Länder schicken und dabei ein großes Risiko eingehen, während die Wissensquellen im Lande selbst uns große Vorteile bieten. Ich habe diese Ideen in vielen Artikeln zum Ausdruck gebracht, besonders erinnere ich mich eines heftigen Artikels, den ich 1911 – noch als Student in Amerika – gegen die übertriebenen Ideen des Professors Ahmet Ağaoğlu in der Zeitung „lkdam“ veröffentlichte.

Ich bin glücklich, daß meine Lieblingsschule jetzt das hundertjährige Jubiläum ihres Bestehens feiern kann. Stolz fühle ich mich, daß ich schon im fünfunddreißigsten Jahre ihres Bestehens mit dieser wunderbaren Lehranstalt in Berührung kam. Am Vorabend ihrer Hundert-Jahr-Feier habe ich die Deutsche Schule besucht, um mir über ihren jetzigen Stand eine Meinung zu bilden. Ich kam mit Herrn Direktor Anstock und mit mehreren Lehrern ins Gespräch und konnte Klassen- und Fachräume, das Sprachlabor, die Schülerbibliothek und die Physiksammlung besichtigen. Ich war glücklich zu sehen, daß der Geist der Schule den alten, schönen Traditionen treu geblieben ist, aber die Ausstattung der Schule sich verändert und modernisiert hat. Ich wünsche meiner Schule das beste für ihr weiteres Bestehen, und ich bin sicher, daß dieser Wunsch in Erfüllung gehen wird.

Ahmet Emin Yalman, 1968