Er ist auf dem Foto aus dem Jahr 1956 zu sehen, das ich mehrfach verwendet habe. Wer es ist, muss nicht angegeben werden, denn auf den Bildern vom Jahr 1958 war er nicht mehr abgebildet. Die Schulleitung hatte zuvor dem anschließend schockierten Vater mitgeteilt, dass der Filius aller Voraussicht nach das Abi an dieser Schule nicht schaffen würde.
Der Vater, weder arm noch schüchtern sondern einer der drei reichsten Männer der Türkei, versuchte sein Bestes. Aber sein Bestes war nicht gut genug. So verschwand der Junge aus unserem Gesichtskreis. Einen Anlass, ihm nachzuweinen, fand vermutlich keiner. So vergaß ich ihn auch, bis ich im Jahre 1973 auf einem Felsen auf dem Meer an der Costa Brava Picknick machte.
Costa Brava hört sich nach brav an, aber brava heißt wild. Deswegen stehen die Reste der ehemaligen Küste, die das Meer zerstückelt hat, noch im Wasser herum. Wir fuhren mit einem Zodiac mehrere Kilometer an der Küste entlang, die ideal zum Wasserskilaufen war. Irgendwo draußen stand ein Felsen, auf dem ein Platz für ein Picknick zu viert war. Zudem fand man dort genügend Seeigelfrauen, deren Eier lecker schmecken. Man darf sich nur nicht durch die stachelige Außenhaut irritieren lassen. Unter jeder stacheligen Schale steckt ein …
Während des Gelages auf dem Felsen näherte sich ein Ruderboot mit einem Pärchen dem Ort. Die beiden fragten, ob sie mit auf den Felsen dürften, ohne uns zu stören. Der Mann und ich sammelten noch mehr Seeigel, damit alle genug hatten. Als wir beim Essen waren, fragte er mich, wo ich denn das Sammeln von Seeigeln gelernt hatte. Als ich ihm erzählte wo, berichtete er, er hätte einen Schulkameraden aus Istanbul gehabt. Seine Schule in Süddeutschland wäre so eine von den Diplomdruckereien gewesen, auf die reiche Väter ihre Kinder schicken. Man müsste dort nicht viel können. Der Schulkamerad aus Istanbul hätte sich allenfalls als Basketballspieler hervorgetan, aber sonst … Da fiel mir die alte Geschichte ein. Er konnte wirklich gut Basketball spielen. Aber ansonsten …
Ich fragte die neue Bekanntschaft, ob der Name des Schulkameraden … sein könnte. Riesengelächter. Er war es.
Einige Jahre später ließ ich mich in Ankara zum Krieger ausbilden. Abends als die ganzen Kommandanten nach Hause gegangen waren, holte ich immer meine Klappteestube heraus und das gut versteckte Tavlaspiel, Das Herzstück der scherzhaft Klappteestube genannten Einrichtung war ein Tauchsieder, damals in der Türkei nicht bekannt. So konnten wir in der Kaserne nachts Tee kochen, anstelle zu schlafen wie befohlen. Tavla macht zwar nicht so Spaß ohne zu Klappern. Es fehlte nur die wichtigste menschliche Errungenschaft seit die Erfindung des Papiers: Cep Nargilesi. Aber es wurden immer lustige Abende mit illustren Gästen. Es waren nicht die üblichen Rekruten, sondern alles Leute, die sich bis zu mehreren Jahrzehnten haben vor dem Militärdienst drücken können. Viele hatten hohe Posten in Politik und Wirtschaft. Als ich an einem dieser Abende die Geschichte aus der Costa Brava erzählte, erstarrte einer der Leute, die in hohen Kreisen in der Wirtschaft unterwegs war, in Ehrfurcht. „Du kennst den …?“ Als ich die Frage bejahte, seufzte er und erzählte, man müsse für eine Audienz bei unserem ehemaligen Mitschüler mindestens drei Monate warten.