Istanbul schien und scheint für uns eine Großstadt, jetzt Mega-City, zu sein. Weit gefehlt, in und um diese Stadt lebt eine einzigartige Natur. Die Provinz Istanbul beherbergt etwa 2.500 Pflanzenarten und ist zu etwa 44% bewaldet. Viele dieser Pflazenarten sind endemisch, d.h. sie kommen nur auf der Halbinsel Istanbul vor, die den Übergang vom Nordischen in die Mittelmeerregion bildet. Der Bosporus, nach den neuesten geologischen Forschungen die Bühne der Sintflut, ist nicht nur Zuggebiet für viele Fischarten, die zwei Mal im Jahr vom planktonreichen Schwarzen Meer mit seinem Brackwasser ins Mittelmeer, eines der salzigsten Meere der Welt, hin und her ziehen. Wenn man seinen Kopf nach oben hebt, kann man auch zwei Mal im Jahr etwa die Hälfte der Störche von Europa nach Afrika oder zurück ziehen sehen. Letzten Herbst sah das so aus:
Als Istanbul gerade mal 1.0 Mio Einwohner hatte, war hinter den Hügeln vom Bosporus oder vom Marmara Meer nur Natur. Dort traf ich früher öfter Menschen, die nie das Meer gesehen hatten. Unser Deutschlehrer Herr Hochhut hatte gehört, dass ich mich in dieser Prairie gut auskennen würde. Da er wie auch unser Bio-Lehrer einmal im Leben einen Wiedehopf sehen wollte, fragte er mich, ob ich die beiden führen würde.
Warum nicht? Ich schlug vor, hinter Kadıköy den kürzesten Weg über die Berge zu schaffen, ich glaube mit Bus und per pedes. Danach würden wir etwa 15 km nach Kandilli marschieren. Üblicherweise 3 Stunden, mit Vogelbeobachtung fünf. Herr Hochhut sagte, ich solle die Planung sehr zuverlässig und sicher auslegen, weil ihn am Abend ein unglaublich wichtiges Ereignis erwarten würde: Stachelschweine in Istanbul. Falls er die verpaßt – Adieu mein Abi!
Stachelschweine sind Tiere, die man bestimmt nicht in einem Kuschelzoo trifft. Sie sind widerborstig. Borstentiere, d.h. Schweine, sind sie aber nicht, selbst wenn sie 100 Mal so heißen. Die Herrschaften, die so heißen, sind ebenso widerborstig, aber nur verbal. Die waren das In-Kabarett, als das politische Kabaret in Deutschland blühte. Einen von denen traf man in Berlin überall, weil er überall war. Wolfgang Gruner, der bis zum Ende die Fahne hochhielt, und der, den ich später persönlich kennenlernen sollte, Günther Pfitzmann, waren die Seelen des politischen Kabaret, bis ihnen die Borsten abhanden kamen. Ja, zu diesen Herrschaften, die nur einmal im Jahrtausend Istanbul beehren würden, wollte Herr Hochhut, egal ob Sintflut oder Weltuntergang. Für den Fall, dass meine Planung fehlschlagen würde, drohte er mit bitteren Konsequenzen.
Nun plante ich schlappe 6 Stunden anstelle der echt benötigten drei. So wäre ich auf jeden Fall zum Abi, und auch rechtzeitig zu meiner Freundin, gekommen, die am Zielort wohnte. Die Fahrpläne der Dampfer, die unsere Lehrer auf die zivilisierte Seite von Istanbul schippern sollten, kannte ich auswendig, weil meine üblichen Fahrten nach Kandilli und deren Fahrzeiten eine präzise Koordination benötigten. Ich fuhr nämlich meistens in einem Ruderboot nach Kandilli, und wer Akıntıburnu kennt, weiß was das ist. Vier Knoten Strom und harter Gegenwind aus der gleichen Richtung sind üblich. Wenn man Pech hat, gibt es Welle gratis dazu. Mit Ruderkraft kann man alle Jahre mal durch, meistens half nur Treideln. Wenn man beim Queren dieser Stelle vom anlegenden Dampfer überrascht wird, dann gute Nacht. Daher meine präzisen Kenntnisse über die Fahrpläne.
Nachdem wir den Stadtrand erreicht hatten – ich weiß leider nicht mehr wo, könnte Yakacık sein oder näher – sahen wir kein Meer mehr, und noch keinen Bosporus. Irgendwo hinter den Hügeln würde er stecken. Heute wüsste man schnell, wo man ist, weil mindestens zwei Bauwerke den Bosporus markieren. Eines davon sieht man hier (von Çamlıca aus gesehen)
Doch wir waren weit davon entfernt, irgend ein Stück Istanbul zu sehen. Maki oder Macchia auf italienisch, überall. Hier und da bellt ein Köter vor einer Hütte, die wir passieren. Ab und an sieht man einen Mann am Trampelpfad kauern. Dass man nur wenige Kilometer von einer Großstadt herumläuft, die nach der damaligen Vorstellung etwa 3.000 Jahre alt sein soll, nach der heutigen vielleicht 8.500, würde niemand glauben.
Als nach den drei fest eingeplanten Stunden weder der Bosporus noch irgend ein Gebäude in Sicht war, wurde Herr Hochhut unruhiger und fragte dauernd, wann wir denn ankämen. Ich sagte, na, ja, noch eine Stunde. Nach einer weiteren halben Stunde fragten wir den Mann, der dort am Trampelpfad kauerte. Er zeigte Richtung Norden und sagte, eine Stunde noch. Herr Hochhut fing an zu drohen. Ob ich sicher wäre, dass der Typ kein Kreter ist? (Kreter lügen immer, was nicht schlimm ist. Dumm ist die Sache dann, wenn man nicht weiß, ob der Gefragte Kreter ist oder nicht.)
Als die Stunde um war, sah man weder Kandilli noch einen Wegelagerer. Ich kürzte meine Vorhersage auf eine Dreiviertelstunde. Dann würden wir wirklich ankommen. Wenn nicht, muss ich mich als Nachfahre von Kretern outen. Ist auch nicht so schlimm. Aber die Sache mit dem Abi. Kein Stachelschwein – kein Abi!
Mir fiel eine Zentnerlast von den Schultern, als ich aus der Ferne die Mädchenschule von Kandilli entdeckte. Jetzt aber Fersengeld geben. Auf Bitten von Herrn Hochhut fragte ich den nächsten Am-Wegesrand-Hocker pro forma, wie weit wir noch zu laufen hätten. Der zeigte in den Norden und sagte noch eine Stunde. Wir waren aber schon in Kandilli und im Norden war Beykoz.
Ich habe mein Abi geschafft.
(Dieses Bild gehört nicht zu dieser Geschichte, aber zur Geschichte von Istanbul. Kandilli 1954, als die Eisschollen aus der Donau den Bosporus verstopften, sah die Anlegestelle so aus. Die größte der Eisschollen war Anfang Juni noch da.)