Bei Frau X, unserer Lehrerin, habe ich den Namen entfernt, weil dies mit der Geschichte zusammenhängt, die ich schreiben will. Diese fing damit an, dass uns eines Tages etwas passierte, was wir uns schrecklicher nicht hätten ausmalen können. Sie war unpässlich, und ein bis dato unbekannter Lehrer kam als ihre Vertretung. Wir fanden ihn schlimm bis unerträglich. Er sah bereits beim Betreten des Klassenraums mürrisch durch die Gegend. Na, ja! Eine Stunde kann man schon ertragen.
Eines Tages eröffnete sie uns, sie müsse uns abgeben, weil … und zeigte auf ihren Bauch. Uns war noch nicht aufgefallen, dass der Bauch ziemlich rund geworden war. In Istanbul waren Frauen mit recht runden Bäuchen in normalen Umständen und nicht in anderen. Dass sie vor einiger Zeit geheiratet hatte, wussten wir. Nur nicht, wer der glückliche Mann war. Den sollten wir noch kennenlernen.
Sie guckte unsere traurigen Gesichter an und sagte: „Es ist halb so schlimm, Ihr bleibt in der Familie.“ Und präsentierte uns ihren Mann. Schreck, lass nach – das war der schlimme Lehrer, der die Vertretung übernommen hatte. Jetzt hatte er uns ganz übernommen, Herr David.
Savaş und ich, die Rädelsführer der Opposition, ließen uns nicht lange gefallen, wie der Herr uns behandelte. Und fingen mit diversen kriegerischen Aktivitäten an. Dazu muss man wissen, dass wir selten belangt wurden, weil wir ansonsten sehr gute Schüler waren. Deswegen konnten wir uns viele Mätzchen leisten. Nicht so bei Herrn David. Er erwischte uns häufig auf frischer Tat und bestrafte uns, wie halt ein Deutschlehrer Strafen austeilen kann. Bei meiner ersten Tat musste ich die drei ersten Strophen von „Der Kaiser und der Abt“ auswendig lernen und aufsagen:
„Ich will euch erzählen ein Märchen gar schnurrig.
Es war `mal ein Kaiser, der Kaiser war knurrig;
Auch war `mal ein Abt, ein gar stattlicher Herr,
Nur schade! sein Schäfer war klüger als er.
Dem Kaiser ward’s sauer in Hitz’ und in Kälte:
Oft schlief er gepanzert im Kriegesgezelte,
Oft hatt’ er kaum Wasser zu Schwarzbrot und Wurst.
Und öfter noch litt er gar Hunger und Durst.
Das Pfäfflein, das wusste sich besser zu hegen
Und weidlich am Tisch und im Bette zu pflegen:
Wie Vollmond so glänzte sein feistes Gesicht,
Drei Männer umspannten den Schmerbauch ihm nicht. “
War´s das? Nö, bei jeder neuen Missetat drei weitere, und immer von vorn aufsagen. Bei gemeinschaftlichen Aktionen, die aufflogen, mussten wir im Duett sechs Strophen hinzu lernen. Als das Gedicht mit seinen 39 Strophen zu Ende erzählt war, hat Herr David nach Verlängerungsmöglichkeiten geschaut. Vielmehr wusste er, was er uns noch aufbrummen musste. Das längste Gedicht der Welt, das von Patrick Huet mit seinen 994,10 Metern bzw. 7547 Versen, war noch nicht geschrieben. Vielleicht harrte der Dichter noch seiner Zeugung. Deswegen mussten wir noch ein Potpourri langer Gedichte lernen.
Wir gaben nicht auf, Herr David auch nicht. Am 31. Mai haben wir uns verabschiedet. Herr David war nicht der schreckliche Lehrer, den wir nach seinem ersten Auftritt vermutet hatten. Den Kampf haben alle drei ohne Blessuren überstanden. Savaş sollte erst in der 11. Klasse seinen Meister finden, unseren Chemielehrer Limpricht.
Das Jahr danach fing mit einer netten Überraschung an. Frau Semerau. Bei ihr waren unsere Waffen stumpf. Sie war einfach nett und bestimmt. Obwohl wir bei ihrem Vorgänger Schreck auf den ersten Blick, bei ihr eher Liebe auf den gleichen erlebt haben, kann ich mich nicht daran erinnern, dass wir lange Vergleiche zwischen den beiden gezogen hätten.
Bei Frau Semerau musste ich allerdings längere Texte auswendig lernen. Zum Schillerjahr hatte die Klasse ein Drama von Schiller ausgeführt, was unser Direktor so toll fand, dass wir auch Egmont von Goethe aufführen durften. Ich übernahm die Rolle von Egmont mit viel Text zum Lernen – nicht etwa der Kultur wegen, sondern weil man so nahe bei Clärchen sein durfte, gespielt von … (sage ich nicht, ich sehe sie manchmal noch). Immer lernen, mal Strafe mal Belohnung:
„Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein;
Langen und bangen in schwebender Pein;
Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt;
Glücklich allein ist die Seele, die liebt.“
Lass das Heiopopeio.