Mein World Wide Web – oder Wie man Heinz Anstock in Kanada trifft
Lang, lang ist es her. Die Nato hatte mich mit 39 anderen Kollegen zu einer Konferenz nach Niagara on the Falls eingeladen. Ein Hotel mitten im Wald, keine Seele außer den Konferenzteilnehmern. Ich war stolz darauf, dass ich mein Dorf verlassen hatte, das ich als Kind sehr langweilig fand. Wir hatten nicht einmal eine Straßenbahn. Zu einer Stadt gehörte nach meiner Meinung aber unbedingt eine solche Bahn. Außerdem waren die Boote bei uns meistens hübsch gestrichen und gut gepflegt. Zu einem Hafen gehörten nach meiner Meinung aber etwas herunter gekommene Lastboote mit Trossenfetzen als Fender drum herum. So saß ich am Strand neben meiner Grundschule und angelte. „Istanbulu dinliyorum“ hat Orhan Veli geschrieben. Denn von seinem Wohnort konnte man Istanbul bestenfalls hören. Von uns aus aber auch sehen. Istanbulu seyrediyorum. Unser Dorf!
Meine Angelstelle hatte einen komischen Namen für einen türkischen Ort. Sie hieß Istavroz. So nennen die Griechen das Kreuz Jesu. Dort war eine Ruine, nicht so alt, hieß es immer. Sie kann keine 2000 Jahre sein. Ein Scherz, natürlich, dachte ich. Dieses olle Gemäuer ist alt, aber höchstens 50 Jahre. Das war ein hohes Alter für mich, weil mein Großvater so alt war. In Istavroz gab es auch eine kleine Moschee. Dass sie einen äußerst seltsamen Namen trug, fiel uns gar nicht auf. Sie wurde von den Alten Istavroz Camii genannt, Kreuzmoschee also!
Wenn man in so einem langweiligen Ort wohnt, fallen einem die Besonderheiten nicht auf. Da wo der Platz aufhörte, der Istavroz hieß, war ein großer Palast. Der da unten im Bild. Wir nahmen ihn nicht zur Kenntnis, weil er wohl schon immer da war. Außerdem hatten wir immer Ärger damit, weil die Fußbälle vom Schulhof öfter rüberflogen. Die gemeinen Wachsoldaten gaben sie nicht wieder her.
An diesem Gott verlassenen Ort gab es vier mal am Tag eine Sensation: Der Bus von und nach Beykoz fuhr morgens und abends je zwei Mal über unsere Hauptstraße. Ich ließ dann die Angel fallen und ging gucken, wer da kam. Abends kamen auch die Schiffe aus der Stadt häufiger und entluden unsere Väter und einige Mütter. Ansonsten war da wirklich nichts los. Stopp: Manchmal kamen wunderschöne alte Ruderboote vorbei. Sie hatten dem Sultan gehört. Ach, ja. Der hat früher öfter hier gewohnt. Den gab´s ja nicht mehr. Dafür kamen ganz irdische Figuren wie Adnan Menderes, Celal Bayar, Ismet Inönü. Es war wirklich nichts los hier. Unser Dorf sah fast immer wie da unten aus:
Was da wirklich los war, habe ich während des besagten Aufenthalts in Niagara on the Falls verstanden. Auf dem Wege zum nächsten Dorf sprach mich ein sehr alter Teilnehmer an und wickelte mich in ein Gespräch ein. Er hieß I.J. Gelb und schien von allen Teilnehmern mit äußerstem Respekt behandelt zu werden. Prof. Gelb hatte diesen Respekt verdient, weil er bereits 1925 eines der wichtigsten Bücher über die Schrift geschrieben hatte. Ach, ja. Gelernt hatte er Vieles an einem Ort rechts im Bild, heißt Çengelköy. Und bei Ausgrabungen in Çatalhöyük und so. Wie bitte? Ich kenne jemanden, der in Çengelköy wohnte und auch solche Ausgrabungen gemacht hatte. Als ich ihm den Namen nannte, blieb er stehen, „Ja, mit Bahadir habe ich die Ausgrabungen gemacht. Aber woher kennst Du ihn?“ „War der Vater einer Schulkameradin. Wir gingen gemeinsam auf die Schule, da wo der Galataturm ist. Kennen Sie doch auch?“
Und ob er die kannte. Als ich den Namen unseres Direktors nannte, guckte er ungläubig. Das aber kann nicht sein, sagte er. Der Heinz war ein schlechter Schüler. Gemeint war Heinz Anstock, und I.J. Gelb war Trauzeuge bei seiner ersten Hochzeit gewesen. So etwa 1933, nachdem die Nazis Anstock aus der Uni rausgeschmissen hatten. Gelb hat mir die Geschichte unserer Schule in den 30er Jahren wunderbar beschrieben, und die vom Deutschen Archäologischen Institut, bei dem er tätig gewesen war. Für ein paar Tage habe ich die gleiche Bank gedrückt wie der Mann, der unsere Schule und Herrn Anstock besser kannte als wir alle, und mein Dorf auch.
Da war aber noch jemand auch dieser Konferenz, der eine Beziehung zu meinem Kaff hatte. Und noch einer. Der Mann, der mich eingeladen hatte, hieß Bouma und war Holländer. Als Gelb ihm unsere Story erzählte, sagte Bouma, er würde Bahadir auch kennen, aus Holland. Der andere hieß H.E. Paine und war der künstlerische Direktor von National Geographic Magazine. Ohne diesen Ort hätte es vielleicht seinen Job gar nicht gegeben. Der Gründer des Magazins, G.H. Grosvenor, war nämlich dort zur Schule gegangen, wo ich beim Angeln immer hinguckte, auf der anderen Seite des Meeres, Robert Koleji. Und seinen Ruhm hatte er mit Bildern von schönen Ruderbooten des Sultans und seiner Gefolgschaft gemacht, die nach Göksu oder Küçüksu unterwegs waren. (gegen Ende des Bildes, in der Mitte, rechts).
Binnen Minuten wurde mir klar, was für ein Ort unser Kaff gewesen ist. Als ich vor mehreren Jahren eine Internet Konferenz organisierte, fiel mir die Sache wieder ein. So habe ich mein kleines Web von Beylerbeyi über die Deutsche Schule nach Niagara on the Falls (Gelb und die Konferenz), Kalifornien (Paine und National Geographic) und zurück zu meinem Kaff (Bilge, Vater, Gelb und ich) gezeichnet. Für die Teilnehmer von Hongkong bis Philadelphia war das Bild der Renner.
Eigentlich wollte ich den Leuten zeigen, wie man Daten im Internet sammelt. Beim Anblick des Bildes fielen mir nach und nach meine Freunde und Nachbarn ein, deren Wohnorte ich einzeichnete und wo die herkamen. Unser langweiliger Ort war, wie ich dabei feststellte, ziemlich kosmopolitisch bewohnt. Dabei habe ich die richtigen Kosmopoliten, die Bewohner der Yalıs von Beylerbeyi nicht richtig gekannt. Über die gibt es einige schöne Bücher. Nun, so sah etwa das Bild aus:
Natürlich sind da Leute aus der engen Nachbarschaft der Türkei (Weißrussland und so) nicht eingezeichnet. Fast alle waren von wo anders gekommen, auch ich. Nur Vangel war schon immer da gewesen, so etwa 600 bis 1600 Jahre. Ich meine seine Familie natürlich.
Nun interessierte mich noch, wer alles hier zu Besuch gewesen ist. Vielleicht das Wichtigste: Die erste Weltfrauenkonferenz hat da im Palast, links um die Ecke hinter dem Hügel am Meer, leider nicht sichtbar) stattgefunden. 1935! Und der Schirmherr war … Kemal Atatürk. Der erste Star, der hier vorbei gekommen war, hieß Jason und jagte nach dem Goldenen Fließ! Er war der erste Grieche, den das Schwarze Meer wieder hergab.
Und das Interessanteste: Unser Kaff war vom Konstantin dem Großen dazu auserkoren worden, den Menschen hier zu zeigen, dass der Cäsar der Römer nunmehr Christ geworden war. So etwa im Jahre 319 ließ er hier ein Kreuz errichten. Darum heißt die Stelle Istavroz und die Moschee hatte einen äußerst seltenen Namen.
Und das vorvorletzte Event mit einer Verbindung zu unserer Schule? Natürlich nicht so wichtig wie die Gründung von Konstantinopel, aber immerhin. Hier steht sie. In Istavroz und lacht die anderen aus dem Jahrgang 1963 an. Noch sind es ein paar Stunden, bevor 40 Jahre Abi gefeiert wird. Wie habt ihr das wohl überlebt?
Ganz gut, wie es ausschaut.
Das vorletzte Event sollte noch kommen. Jahre nachdem die Konferenz stattgefunden hatte, aus der die Folien stammen, meldete sich die Schulkameradin per Mail. Ein Lehrer der Schule hatte erkannt, dass die in der Folie gemeinte Schule die Deutsche Schule Istanbul sein müsste, weil das Bild von Heinz Anstock aus einem Foto des Lehrerkollegiums stammt, das wohl jeder kennt. Er hatte sie von der Folie informiert, in dem Glauben, nur sie können das gewesen sein. Eine erstaunliche Leistung – denn ich war mittlerweile 44 Jahre von der Schule weg, die Kameradin auch fast 40 Jahre.
Danach vergingen noch ein paar Jahre. Auf meiner Facebook-Seite meldete sich eine andere Schulkameradin, mit der wir morgens zusammen in die Schule gefahren waren. Von ihr erfuhr ich so Einiges, was junge Mädchen Jünglingen nicht erzählen. Schade, das hätte ich früher wissen sollen.
Irgendwie muss das Ganze noch weitere Kreise gezogen haben. So hat der Sohn einer der Köhle-Zwillinge, mit der ich sieben Jahre in einer Klasse war, der Mutter eine Nachricht geschickt und meine Adresse mitgeteilt. Mit beiden stehe ich seitdem in Kontakt. Eine hat mich in Berlin besucht, als wir unser monatliches Schultreffen hatten. Wenn es ein Klassentreffen gewesen wäre, hätten wir uns auch nicht sehr einsam gefühlt. Aus der Klasse, die ich 1955 besucht hatte, treffen sich regelmäßig fünf an wechselnden Orten zum Jour fixe. Manchmal sind es bis zu 8 aus dem Jahrgang.
Vor Jahren hatte ich Artikel gelesen, dass die Arbeit am vernetzten Computer die Menschen einsam mache. Offensichtlich stimmt es nicht …
Auf, dass alle im Jahr 2013 wieder dabei sind!