Guten Abend, ich heiße Lehmann

Als ich auf die Deutsche Schule kam, war der Große Krieg erst 10 Jahre vorbei, aber die Abrechnung mit ihm noch nicht mal in ihrer heißen Phase. Die „Deutschen“ bestanden für mich aus Herrn Max Denzel, einem sehr netten Münchner als unser Lehrer für Alles, den Nazis in amerikanischen Kriegsfilmen und Comicstrips, Herrn Dr. Stern als Vize-Direktor, das exakte Gegenteil eines Nazis, und Herrn Lehmann.

Er spielte nicht die große Rolle für uns, weil wir ihn nur zwei Mal in der Woche im Turnunterricht erlebten. Sonst hieß es 30 Stunden in der Woche Max Denzel. Die beiden Herren unterschieden sich nicht nur in ihrer Herkunft aus Deutschland, und damit in ihrem Dialekt, sondern auch in der Tonlage. Max Denzel war nur hart in seinem bayrischen Dialekt, Herrn Lehmann aber erlebten wir in der schnittig-harten Tonlage, die ich später bei Reitlehrerinnen wieder finden sollte.

Als wir in die 7. Klasse kamen, war Herr Lehmann nach Deutschland zurückgekehrt. Sein Nachfolger war nicht weniger bestimmt, aber sonst eher ein sanfter viel jüngerer Mann. Eher ein Kontrastprogramm zum Vorgänger. Man kann sich vorstellen, als was wir Herrn Lehmann bezeichneten.

Nie wieder habe ich von ihm gehört, bis … Anders als manche Lehrerinnen und Lehrer, die eine Beziehung zu oder in Istanbul aufgebaut hatten, und wiederkamen, blieb Herr Lehmann fort. Mancher Lehrer mochte auch nicht über ihn reden.

Etwa 45 Jahre nach meiner letzten Begegnung mit ihm trafen wir uns mit vielen Ehemaligen in Düsseldorf zu einer Wiedersehensfeier. Zu solchen Feiern werden auch die ehemaligen Lehrer eingeladen, sofern wir ihre Adressen auffinden können. Als wir am Vorabend bei einem Bier in der Hotellobby saßen, hörte ich in meinem Rücken den Satz „Guten Abend, Lehmann! Ich war Euer Lehrer.“ Wie mit der Feder aufgezogen, rief ich „Herr Lehmann, Sie haben mich auf dem Gewissen!

Was war da los, dass ich mich über 45 Jahre nach einem Ereignis, an das ich nie gedacht hatte, plötzlich so benahm? Was hatte der arme Lehrer denn verbrochen? Es sollte sich zeigen, dass ich von meinem Spruch überraschter war als Herr Lehmann.

In unseren ersten beiden Jahren an der Schule bestand die Ausrüstung der Turnhalle aus sehr alten Stücken. Die guten Sprungmatten kamen erst lange nach dem Besuch von Papa Heuss, und bis dahin bestanden die Matten aus Bärenfellen. Heute wären die Dinger eine Rarität, wenn nicht eine Sensation. Wir fanden es aber nicht so prickelnd, auf Bärenfällen zu turnen, zumal sie einen Fall aus der Höhe kaum dämpften. Genau den hatte ich zu Beginn einer Turnstunde. Herr Lehmann jagte uns am Anfang immer die Kletterstangen hoch, der Sieger konnte sich was aussuchen. Da ich sicherer Sieger sein wollte, schlug ich zu früh an, die Hand ging ins Freie und ich nach unten – im freien Fall. So etwa 5 bis 6 Meter.

Obwohl ich gewaltig humpelte, trieb mich der Lehrer weiter an. Ich musste immer größere Leistungen bringen. Die letzte davon war ein Hechtsprung über sechs quer gestellte Kameraden. Dann war der Ofen aus, aber auch die Turnstunde. Ich zog meine Winterstiefel an und ging in die Klasse für die nächste Stunde. Zwei Stunden später konnte ich kaum noch laufen. Der Schularzt gab einem von der Klasse frei, damit er mich nach Hause begleiten konnte.

Ich konnte meine Stiefel nicht einmal ausziehen. Das war unsere letzte Bekanntschaft, weil der eine Stiefel aufgeschlitzt werden musste, um meinen angeschwollenen Fuss samt Fussgelenk zu befreien. Ich hütete eine Woche das Bett. Und die Sache war damit vergessen. Aber offenbar doch nicht!

Nur Sekunden nachdem ich ausgerufen hatte „Herr Lehmann, Sie haben mich auf dem Gewissen!“, sagte er wörtlich „Tut mir leid, ich konnte nicht anders.“ Huch? Woher weiß der Mann, wer da ruft? Und warum denn? Nicht mal mir war ganz bewusst, warum ich die Worte ausgesprochen hatte.

Er setzte sich zu uns und erzählte, warum er mich durch die Turnhalle gejagt hatte. Er hatte das Gefühl gehabt, ich würde simulieren. Das war ihm aber wider den Strich gegangen, denn … Er sagte: „Ich bin in der Nazizeit Turnlehrer geworden. Da hieß es ‚zäh´ wie Leder, hart wie Kruppstahl‘ “ Danach erklärte er, warum man eine solche Erziehung nicht loswerden kann.

Jetzt verstand ich, warum mir mein malaiischer Guide beim Klettern auf die Pinnacles auf Borneo, nach mehreren vergeblichen Aufforderungen, den Aufstieg abzubrechen, gesagt hatte: „Sir, you never give up?“ Und ich hatte erwidert „I never give up“. Wir stiegen bei 35º C und fast 100 % Luftfeuchte 1.200 m hoch, davon die letzten 100 bei genau 100 % Luftfeuchte auf Aluleitern, senkrecht – mit vollem Rucksack. Man kann wohl eine Erziehung nicht loswerden, auch wenn man nicht mehr an den Erzieher denkt.