On revient toujours à ses premiers amours!

50 Jahre Abi an der Deutschen Schule, Anfang Juni wollen wir uns in Istanbul wiedersehen!

Wie auf Knopfdruck fallen mir so viele Erinnerungen aus meiner Zeit in der A-Klasse ein,  über die ich jetzt endlich schreiben will.

Eigentlich wollte ich gar nicht auf die Deutsche Schule, als ich die Grundschule verließ. Ich sprach bereits recht manierlich englisch, die High School war in Nişantaş einen Katzensprung weit, die Buben trugen so niedliche Uniformen mit Krawatte und Cap. Genau da wollte ich auch hin! Aber mein Vater war überzeugt, dass die drei guten deutschen Tugenden wie Wahrheitsliebe, Disziplin und Fleiß die Säulen einer besseren Ausbildung darstellten und ich auf einer Deutschen Schule diese kennenlernen und beherzigen sollte. Den kurzen Kampf gewann der elterliche Wille und ich wurde Schüler des Alman Lisesi. Das Schicksal hatte zugeschlagen.

Ehrlich gesagt bin ich die ersten Tage eher mit Neugierde und Skepsis als aus Begeisterung dorthin gegangen. Diese Sprache war mir fremd, ihr Klang  war hart und grob, ihre Regeln und mehrere Artikel für mich unnötig kompliziert. Ein strenger Lehrer hat uns Türkenkinder sechs Tage die Woche bis zum Umfallen Wörter, deren Artikel, viele Regeln mit Ausnahmen lernen, aufzählen, wiederholen lassen. Manchmal lobte er uns auch. So sprachen wir bereits nach kurzer Zeit volle Sätze und verstanden einfache Texte.

Mit dem Erfolg kam die Liebe zu jener Sprache, diese Liebe wird mich immer begleiten. Deutsch ist wie eine zweite Heimat für mich, inzwischen spreche, schreie,  singe, denke, träume, fühle, leide und maule ich deutsch. Deshalb will ich meine Erinnerungen an die Schulzeit in deutscher Sprache erzählen.

Nach dem ersten Jahr wurde eine Auswahl von Schülern in die 6A versetzt, in die Klasse der „Muttersprachlichen“ und ich war dabei. Jetzt waren nicht nur Jungs und Mädchen gemischt, sondern auch mehrere Nationen. Argwöhnisch beäugten wir uns anfänglich; die eine Hälfte wollte wissen, ob wir, die Türkenkinder, sprachlich mithalten könnten, und wir, die andere Hälfte, waren neugierig, ob uns unsere neuen Mitschüler mit ihrer Muttersprache beim täglichen Üben helfen würden, wo wir jetzt in Klein-Deutschland angekommen waren. Wir sollten anfangen, an unserer Aussprache etwas zu feilen.

Diese Anspannung durchbrachen die Zwillinge Ingrid und Erika bald. Erstens waren sie schon mal zu zweit, dann sprachen sie auch sehr ordentlich türkisch. Sie führten uns permanent vor, was echte Geschwisterliebe heißt; ich begriff, dass es dabei wesentlich darauf ankommt, ob das Geschwisterchen 3 Minuten oder 3 Jahre  wie bei mir nachgeboren wird. Aus ihrer Einheit schöpften sie die Kraft für alles, was auf sie zukam. Außerdem konnten sie sich in einer Geheimsprache und Gestik in Notsituationen austauschen. Sie waren so was wie die „kommunizierenden Röhren“.

Vor mir saß Verena mit geradem Rücken und baumelnden Zöpfen direkt vor meiner Nase, für einen Jungen eine Herausforderung, mal an ihnen zu ziehen – der ich  heldenhaft widerstand. Doch einmal habe ich sie in den Po gezwickt, was sie postwendend und lautstark meldete (dies Petzen zu nennen, hieße sie ins schlechte Licht zu rücken) Ich bekam die gerechte Strafe auf dem Fuß und unterließ ab sofort solche Untaten.

Dann war die blonde Karin, die oft lächelte und einen roten Kopf bekam, wenn sie mal beim Mündlichem nicht Bescheid wusste. Auch an Anita kann ich mich recht gut erinnern. Anita, die Spanierin, war warmherzig,  hatte große schwarze Augen, die beim Abfragen hilfesuchend herumschauten. Sie kam oft morgens verspätet hereinspaziert (das war ein Privileg unserer Mitschüler aus der asiatischen Seite wegen Nebels), lispelte ein wenig, nuckelte im Unterricht süß und verträumt am Daumen. Ich habe sie beneidet, denn Jungs durften nicht öffentlich Daumen lutschen. Ich kämpfte zu dieser Zeit mit der Abnabelung.

Das waren die ersten Eindrücke. Sehr bald haben wir uns zu einer Gemeinschaft entwickelt. Es machte Spaß, in dieser Klasse zu sein! Zugegeben, die meisten von uns waren echt fleißige, lernwillige Schüler. Aber wir hatten auch handverlesene Lehrer, die uns was beibringen wollten. Es herrschte echt ein gutes Klima. Wir, die drei Ahmets waren gut im Raum verteilt, stellte der Lehrer eine Frage, kam die Antwort prompt aus den Ecken. Die Klasse machte immer gut mit. Um Antworten waren wir selten verlegen. Natürlich war auch eine Klein-Rivalität zwischen den Einzelnen vorhanden, aber niemand schaute auf den anderen herab. Abschreiben bei Klassenarbeiten kam selten vor, nicht etwa weil die Lehrer so gut aufpassten, sondern weil jeder seine Leistung für sich behalten wollte. Also in Sachen Noten , da waren wir wieder Individualisten. Wir waren aber auch hilfsbereit, je nach Fach hatten alle ein paar gute Noten. Es gab keine ewigen Sieger oder Verlierer.

Ob jüdisch, muslimisch, evangelisch, römisch-katholisch, rechts- oder linksrheinisch – Religion war Privatsache in unserer Klasse. Dieser freie Geist hat mich sehr geprägt.

Oft denke ich auch an die herrliche Aussicht aus dem Fenster zurück, wie sich der Hafen, die Altstadt, die Serailspitze vor unseren Augen ausgebreitet haben. Heute müsste jemand in einem Konzern schön weit nach oben geklettert sein, um so ein Bureau zu bekommen. Wie privilegiert wir damals waren!

Ich kann mich noch so gut an viele aus unserer Klasse erinnern:

  • an Ida, leise, immer freundlich und kameradschaftlich;
  • an Mine, fein im Gesicht und oft lächelnd;
  • an Semra, dunkel, fleißig und zurückhaltend;
  • an Oya, bebrillt, ordentlich, wie eine angehende Lehrerin;
  • an Ülker,  die zurückgezogen in ihrer Ecke immer Bescheid wusste – unsere stundenlangen Telefonate wegen Matheaufgaben gefährdeten ernsthaft  den Praxisbetrieb meines Vaters (es gab damals eben nur eine Leitung!);
  • an Erhan, unseren „Professor in Englisch“, der uns mit seinem Wortschatz meilenweit voraus war und die Klassenarbeiten in dem Fach außer Konkurrenz mitschrieb;
  • an Savaş, der immer zu den Besten gehörte, sein Wissen nicht überheblich verkündete, dessen Wortbeiträge uns hinhören ließen und der in der Seele ein echter Lausbub war mit schelmischen Augen;
  • an Ahmet Ç.,  vermutlich der Klassenprimus, seine Intelligenz war stets begleitet vom Fleiß. Diese Symbiose brachte natürlich ihre Früchte hervor, er war aber nie vorlaut und besserwisserisch;
  • an meinen langjährigen Nebensitzer Nur, immer ruhig und besonnen, vermittelnd;
  • auch an meinen Kumpel Giselher, der nicht nur das Pech hatte, durch die Versetzung seiner Mutter an unsere Schule in eine inzwischen zusammengewachsene Eliteklasse zu geraten, sondern auch seine Mutter in Bio als Lehrerin vorgesetzt bekam. Auf Geheiß  von Ursula S. (das kommt später) habe ich ihm etwas geholfen, die Grundregeln seiner Muttersprache besser zu verstehen; da waren wir Türken bibelfest;
  • an Michael, der jede Diskussion bereicherte;
  • an Marie-Françoise, mit deren Einzug die kindliche Ära in der Klasse endete: sie sprach sehr gut deutsch mit leichtem Akzent, war gescheit und überbrachte uns das Flair der Internationalität, war eben Französin! Gelegentlich kullerten Radiergummis auf den Boden, um Blicke nach hinten zu ihren gebräunten Beinen besser zu tarnen. Sie konnte nur den Kopf verständnislos über unsere pubertären  Bubeleien schütteln. Mag sein, dass sie auch reifer war. Recht bald hatte sie unseren Michael zum persönlichen Adjutanten auserkoren, er war wohl als Pfarrerssohn der Vertrauenswürdigste von uns Jungs, und sie brauchte Unterstützung in der neuen Umgebung; Michael wusste viel, war gesetzt, behutsam, stark und blond. Er wuchs zusehends  mit der Aufgabe. Ich glaube, diese Stellung hat er bis zum Abi gehalten.

Mit Ahmet D. verbindet mich eine Reise ein Jahr vorm Abi, wo wir uns in der Ferne gegenseitig unterstützt und Einiges erlebt haben.

Sollte ich jemand vergessen haben, so bitte ich um Nachsicht, die Zeit liegt ja ewig zurück!

PS: Als ich diesen Text zum ersten Mal geschrieben habe, kannte ich das Klassenfoto der 6A nicht. Aber jetzt bin ich überrascht, wie viel ich von damals behalten habe.

Wenn ich an unsere Lehrer zurückdenke, so fängt für mich die Zeitrechnung mit der Übernahme unserer Klasse durch Ursula S. an – für mich reine Nostalgie. Jung, blond mit Sommersprossen, langbeinig, streng und gütig zugleich, wir Jungs haben sie sofort vergöttert. Ihr Wort war Gesetz, ihr Lächeln süß und wärmend. Sie war gerecht und schenkte den Blick jedem, der ihn auch verdient hatte. Wer von uns lernte jetzt nicht  eifriger, um in ihrer Gunst aufzusteigen? Auf dem Klassenfoto in der 9A schaut Savaş vielsagend in ihre Richtung wie Romeo auf den Balkon von Julia! (Schade, dass ich hier fehle, war wohl wieder mit der Geige woanders.) Aber auch die Mädchen liebten sie. Schon damals dachte ich: „wenn ich mal groß bin, bekomme ich auch eine blonde, deutsche Assessorin!“ Das habe ich geschafft, auch wenn nicht ganz so blond, aber fast mit ähnlichem Blick, mal nachsichtig, mal streng und oft mit der Drohung „wenn du dich wie ein Fünftklässler aufführst, dann…!“

Nur in einem Fall habe ich mich Jahre noch  nach dem Abi dafür geschämt – was haben wir unserem Rüştü Bey mit Streichen angetan! Seine Äußerungen wie „ du bist in meinen Augen gesunken“ , „ von dir hätte ich das am Wenigsten erwartet“ und „du missbrauchst meine Zuneigung“ klingen mir noch heute in den Ohren. Auch dass man sich zu seinem Fehler bekennt, und dann um Entschuldigung bittet. „ Özür beyan edilir, af dilenir. Özür dilenmez!“ Dass wir auf ein unsichtbares Kommando unsere losen Tische und Stühle hinterhältig zentimeterweise entweder zu ihm vorrückten oder uns bis auf die hintere Wand zurückzogen, ignorierte er weise. Auch als wir uns an Bayram zum Händeküssen vor ihm aufreihten, übersah er, dass wir uns wieder hinten in die Schlange stellten, um Zeit zu schinden. Einträge gab es beim ihm nicht, dafür äußerte er seine Enttäuschung, was für uns viel schlimmer war. Er war nie nachtragend, so war seine Art pädagogisch klug. Nur in Einem war er beharrlich, in seinem Spezialgebiet des Versmaßes in der Literatur der Ottomanen! Wie hat er uns stundenlang geplagt mit all dem Jambus und Hinkfuß! Die Zwillinge taten mir da in der Seele leid, aber auch die haben die Zeit gut überlebt, weil er sie auch bewunderte und lobte. Manchmal haben wir den Tiefsinn der Dichtung verfehlt, da wir uns zu sehr im Handwerklichen verloren hatten. Er wollte uns so viel beibringen. Ich verneige mich nachträglich vor ihm. Friede seiner Seele!

Wenn ich mich an den türkischen Geschichtsunterricht erinnere, so sehe ich plastisch Cahide Hanım vor mir. Wir lernten bei ihr die Weltgeschichte aus nationalistischem Blickwinkel, unsere Vorfahren, die Ottomanen, mussten mal in der Welt aufräumen, jeder Sieg war gerecht. Wenn Cahide Hanım  mit aufgeheizter und pathetischer Stimme über eine Schlacht sprach, war man gleich auf das grausame Kriegsfeld versetzt und erlebte das Geschehen hautnah.

Auch an unsere Suzan Hanım denke ich manchmal. Ich glaube, sie siezte uns. Das verlieh ihrem Unterricht einen würdigen Rahmen und höheren Anspruch. Sie war auch sehr distanziert. In späteren Jahren lud sie uns zu sich nach Hause zur Partytime. Mit viel Vertrauen in unser Benehmen zog sie sich zurück und überließ uns das lichtgedämpfte Partyfeld. Bei mäßigem Genuss vom mitgebrachten Cinzano ging es jetzt richtig los und die guten Klassenbande wurden zwischenmenschlich hie und da etwas fester geschnürt.

Aus all diesen Geschichten habe ich nur einige herausgegriffen, andere müssen wir ja für das Wiedersehen übrig lassen.

Eigentlich wollte ich meine Erinnerungen aufschreiben. Daraus ist doch eine Liebeserklärung an meine A-Klasse geworden! Die Distanz von so langer Zeit verklärt Manches und gibt mir das Recht, mich an die Dinge so zu erinnern, wie ich es will – die Wahrheitsliebe etwas rosa gefärbt. Bitte, straft mich nicht Lügen, so will ich sie mir aufbewahren! Man kehrt doch immer wieder zu seinen ersten Lieben zurück.

Bleibt gesund bis Juni!

Liebe Grüße an alle, hoffe, dass ich niemand gekränkt habe.

Euer Ahmet B.
März 2013